SDGs gelesen, gelacht, gelocht? Fünf Kernherausforderungen für die „Rettung“ der SDGs

Image: SDGs Piktogramm

Nachhaltige Entwicklungsziele umsetzen

Die Verabschiedung der SDGs wurde von Politikern weltweit gefeiert, als ob mit der Unterzeichnung auch schon die Zielerreichung gelungen wäre. Die eigentliche Herausforderung liegt aber nicht in der Formulierung unverbindlicher Absichtserklärungen, sondern in deren Umsetzung in konkrete Handlungen. Wie kann sichergestellt werden, dass die SDGs nun nicht stillschweigend in der Schublade verschwinden, sondern ihr Kerngedanke zum verbindlichen Bestandteil nationaler und internationaler Politik wird?

Die Verabschiedung der Sustainable Development Goals (SDGs) von der UN-Vollversammlung im September 2015 wurde von Politikern weltweit als großer Erfolg gefeiert. Dahinter steckt nicht weniger als ein Paradigmenwechsel, von der Bekämpfung absoluter Armut in den Entwicklungsländern (MDGs) hin zu einer Gesamtverantwortung für die nachhaltige Entwicklung der Welt in den gegebenen planetaren Grenzen – global und für jedes einzelne Land. Auch wenn es sich bei den SDGs lediglich um eine unverbindliche Übereinkunft handelt, ist es in der Tat bemerkenswert, dass es gelang, sich konsensual auf ein zukunftsfähiges neues globales Zielsystem zu einigen, das für alle Länder – egal ob arm oder reich – gleichermaßen gültig ist. Vor dem Hintergrund des aktuell in etlichen wichtigen Ländern feststellbaren Erstarkens nationaler Eigeninteressen muss man wohl davon ausgehen, dass hier eine historisch günstige Gelegenheit genutzt wurde. Umso mehr kommt es nun aber darauf an, dass die Agenda 2030 nicht stillschweigend in der Schublade verschwindet, sondern integraler Bestandteil nationalen und internationalen Handelns wird. Wie kann das gelingen?

Handlungsdruck aufrechterhalten – auch um die eigene „Komfortzone“ zu verlassen

Der „politische Preis“ für die Einigung auf ein neues globales Zielsystem bestand in seiner Unverbindlichkeit und der fehlenden Maßnahmenpriorisierung: Jedes Land kann selber bestimmen, welche nationalen Ziele es sich setzen will, um damit zur globalen Zielerreichung beizutragen. Die SDGs sind mit ihren 17 Zielen so umfassend definiert, dass fast alles „Gute“, was man tut, sich irgendwie darunter subsummieren lässt. Und wenn sowieso alles was man tut schon zu den SDGs beiträgt, gibt es leider auch wenig Handlungsdruck, diese „Komfortzone“ zu verlassen und Dinge zukünftig anders zu tun. Genau das wäre aber nötig: Nicht „Weiter so!“, sondern systematische Umsteuerung auf einen nachhaltigeren globalen Entwicklungsweg.

Fehlende Priorisierung auf globaler Ebene durch Festlegung nationaler Schwerpunkte „kompensieren“

Wie kann die erforderliche Umsteuerung trotzdem gelingen? Sicherlich nicht indem jedes Land alle 169 Unterziele gleichzeitig und mit homogenem Einsatz verfolgt. Die SDGs mussten so breit definiert werden, damit sich alle Länder mit ihren individuellen Problemlagen und Interessen darin wiederfinden konnten. Sie sind nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eher die Summe aller nationalen und globalen Prioritäten. Letztlich delegieren die SDGs die schwierige Aufgabe der Priorisierung dadurch wieder an jedes einzelne Mitgliedsland zurück: Jedes Land muss sich selber überlegen,

  • wo im eigenen Land der größte Umsteuerungsbedarf liegt um die binnenländisch relevantesten SDGs zu erreichen (nationale Ebene),
  • wie stark es sich beim Schutz globaler öffentlicher Güter wie z.B. Klimawandel und Friedenssicherung engagieren will (globale Ebene) und
  • in welchem Umfang es andere Länder bei der Verfolgung von deren nationalen SDG-Prioritäten unterstützen will (Entwicklungszusammenarbeit).

Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses ist unabdingbar

Die SDGs selber geben aus den oben genannten Gründen leider keine Orientierung für die Priorisierung nationaler Politiken. Das Beste, was man mit den SDGs machen kann, ist sie zum Anlass zu nehmen, um in einem breiten gesellschaftlichen Prozess einen neuen Konsens über nationale Prioritäten, globale Verantwortung und erforderliche Politik- und Verhaltensänderungen herzustellen. Die breite gesellschaftliche Diskussion ist dabei nicht nur übliches demokratisches Ritual, sondern in diesem Falle sogar eine unabdingbare Erfolgsvoraussetzung: Nimmt man die Nachhaltigkeitsagenda ernst, dann müsste die notwendige Umsteuerung letztlich für jedes Mitglied der Gesellschaft spürbare Auswirkungen haben, z.B. die Anpassung von Lebensstilen und Konsumgewohnheiten (nicht unbedingt im Sinne von „Verzicht“, aber von „Umgewöhnung“) und sie erfordert einen langen Atem, der über mehrere Legislaturperioden hinweg tragen muss. Ohne einen starken gesellschaftlichen Konsens sind solche längerfristigen Politikänderungen kaum durchhaltbar.

Konkrete und ambitionierte nationale Ziele definieren und konsequent umsetzen

Der beste Schutz gegen kurzfristige Wendemanöver oder die schleichende Erosion der SDG sind konkrete nationale Zielvorgaben, die zur verbindlichen Grundlage der Politikgestaltung werden, und deren Umsetzung durch unabhängige Gremien überwacht wird. Regierungen müssen sich daran messen lassen, wie konsequent sie die Ziele verfolgen. Der politische Wettbewerb sollte sich auf die Frage konzentrieren, welche Partei die überzeugendsten Lösungen zur effizienten Erreichung dieser Ziele hat. Wenn die Konkretisierung der Ziele auf nationaler Ebene misslingt, wird die Agenda 2030 voraussichtlich wirkungslos bleiben und allenfalls als ein gescheiterter Umsteuerungsversuch in die Geschichte eingehen.

Silodenken überwinden, Synergien nutzen und trade-offs transparenter machen

Auch bei der Umsetzung ambitionierter nationaler Ziele in konkrete Pläne und Politikmaßnahmen lauern noch einige größere Herausforderungen, von der Mobilisierung der erforderlichen Finanzierungsmittel bis hin zur sinnvollen Nutzung staatlicher, privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Durchführungskapazitäten. Wichtig ist hierbei vor allem, den „integralen Charakter“ der Agenda zu wahren: Die Versuchung ist groß, aus pragmatischen Gründen (Reduzierung von Komplexität, Nutzung von Spezialisierungsvorteilen) nun einzelne Ministerien oder Institutionen für die Erreichung einzelner SDGs verantwortlich zu machen und diese dann in 17 parallelen „Silos“ auf die Reise zu schicken. Die Grundidee der Agenda ist aber genau entgegengesetzt: Die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen den Zieldimensionen müssen viel systematischer als bisher analysiert, berücksichtigt und genutzt werden.

Ein gutes Beispiel mag hierfür SDG 3.1 (Reduzierung der Müttersterblichkeit) sein: Im „Gesundheitssilo“ würde man vermutlich zur Zielerreichung erstmal an den Ausbau prä- und postnataler medizinischer Versorgungsmöglichkeiten denken und kaum auf die Idee kommen, dass eine Verbesserung der Grundbildung langfristig der viel effizientere Lösungsweg sein könnte.

Die Agenda ist vor allem der Appell, stärker in Systemzusammenhängen zu denken, Synergien zu nutzen und eventuell unvermeidliche trade-offs zwischen den Zielen und Unterzielen transparenter zu machen und ggf. bewusster einzugehen. Man darf sich eben nicht mehr damit begnügen, überzeugend darzulegen, dass man mit seinen Aktivitäten einem bestimmten SDG dient, sondern man muss sich systematisch damit auseinandersetzen, welche Nebenwirkungen diese Aktivitäten in den anderen relevanten SDG-Dimensionen zeitigen, und ob es nicht alternative Maßnahmen gäbe, die im Gesamtspektrum der Wirkungen letztlich vorteilhafter wären.

Politikänderungen sind wichtig … und Nachhaltigkeit fängt zuhause an!

Wenn man die 5 vorstehenden Herausforderungen bei der Umsetzung der SDGs in nationale Politik berücksichtigt, wird die Wahrscheinlichkeit deutlich steigen, dass die Nachhaltigkeitsagenda nicht nur „gelocht“ und in den Aktenordner abgelegt wird, sondern sich in konkreten Zielen, Plänen und Politikmaßnahmen niederschlägt. Solche Politikänderungen sind dringend erforderlich. Letztlich zielen viele Maßnahmen der Nachhaltigkeitspolitik aber auf Verhaltensänderungen der Bürgerinnen und Bürger ab. In diesem Bereich muss man deshalb auch nicht unbedingt auf die Politikimpulse warten, sondern kann gleich den short-cut nehmen: Viel überzeugender als mit den Fingern auf die Politiker zu zeigen ist es nämlich selber damit anzufangen, beim eigenen Handeln (z.B. beim täglichen Einkauf oder bei der Wahl des Transportmittels) ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen unter Nachhaltigkeitsaspekten gesamtheitlich abzuwägen.

Image: Joachim Heidebrecht

Joachim Heidebrecht leitet in der KfW Entwicklungsbank das Kompetenzcenter „Entwicklung, Governance und Frieden“

3 comments

  1. Niched Fundele - Antworten

    Lieber Hr. Heidebrecht!

    Ihrem Artikel ist nichts hinzuzufügen, Lieder finde ich keine neuen Erkenntnisse, vielleicht weil’s die gar nicht gibt. Sie plädieren für die üblichen Überschriften:

    Handlungsdruck aufrechterhalten – auch um die eigene „Komfortzone“ zu verlassen
    Fehlende Priorisierung auf globaler Ebene durch Festlegung nationaler Schwerpunkte „kompensieren“
    Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses ist unabdingbar
    Konkrete und ambitionierte nationale Ziele definieren und konsequent umsetzen
    Silodenken überwinden, Synergien nutzen und trade-offs transparenter machen
    Politikänderungen sind wichtig … und Nachhaltigkeit fängt zuhause an!

    Ich weiss nur nicht an wen sich sich damit wenden wollen, die Frau Merkel, die Herren Trump und Putin oder demnächst Mdm Le Pen?

    Alles bleibt wie’s ist, von summit zu summit… und morgen geht die Sonne wieder im Osten auf!

    Niched Fundele / founder of the free radicals

    • Joachim Heidebrecht - Antworten

      Lieber Herr Fundele,
      ich freue mich, dass Sie dem Beitrag inhaltlich voll zustimmen. Mit Blick auf die nun erforderlichen Umsetzungsschritte ware ich nicht ganz so pessimistisch wie Sie. In dem Artikel sind die Herausforderungen für die einzelnen Akteure klar definiert. Die Politik hat ja schon reagiert, und ist einige wichtige Schritte in die richtige Richtung gegangen (SDG-konforme Überarbeitung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, Festlegung ambitionierter Klimaziele, Erhöhung der ODA, breiter Diskussionsprozess über den Zukunftsvertrag etc.), wenngleich Sie natürlich recht haben, dass noch viele weitere Schritte erforderlich sind, und die SDG-Diskussion leider immer noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. BMZ, GIZ und KfW überprüfen ihr Portfolio und ihre Instrumente darauf hin, ob sie SDG-tauglich sind (d.h. Synergien und trade-offs hinreichend berücksichtigen, Silos überwinden) und als Privatperson kann jeder zuhause anfangen, die SDGs umzusetzen – ich tue es, und Sie hoffentlich auch! Den Eindruck, dass nichts passiert, teile ich überhaupt nicht! Morgen geht die Sonne wieder im Osten auf, und damit beginnt ein neuer Tag an dem wir -jeder in seinem Einflussbereich- zur Erreichung des gemeinsamen Ziels beitragen können!

  2. fuphil - Antworten

    Auch der Aspekt der Partnerschaften halte ich für relevant. Immer mehr (Groß-)Unternehmen nehmen SDGs als Orientierung für ihre Nachhaltigkeitsberichterstattung. Da könnten Synergien entstehen. Es darf nur nicht so laufen, dass ein Straßenbauunternehmen sich darauf ausruht, für das SDG Ziel der Infrastruktur zu sorgen und das wars. Wie bei Staaten ist da auch die Ganzheitlichkeit entscheidend.

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